In einem Vortrag „Über die öffentliche Fürsorge für Epileptische“ gab Friedrich v. Bodelschwingh 1883 an, dass von den bis dahin in Bethel aufgenommenen etwa 1.300 „Epileptischen“ weniger als acht Prozent als „geheilt“ entlassen worden waren. „Eine solche Anstalt“, stellte er nüchtern fest, „ist keine Heilanstalt mehr, sondern eine Pflege-anstalt“. Durch ärztliche Kunst sei bestenfalls ein Stillstand der Krankheit zu erreichen.
Trotz dieser pessimistischen Einschätzung erprobte man in Bethel seit längerem neue Heilmittel – selbst mit dem südamerikanischen Pfeilgift Curare experimentierte man. „Hausmittel“ wie die berüchtigte Elsternasche lehnte man ab. Seit den 1880er Jahren kam das Bromkali in Gebrauch, dessen Wirkung als Antiepileptikum 1857 vom Geburtshelfer der englischen Königin, Charles Locock, entdeckt worden war. Es wurde von Bethel aus auch in großen Mengen verschickt. 1895 wurde der Bromkaliversand in das neu erbaute Kaufhaus Ophir verlegt. Das Haus, benannt nach einem sagenhaften Goldland zur Zeit König Salomos, ist noch immer Sitz eines Kaufhauses und einer Kantine.
Umstrittener Arzneimittelversand
Von Bethel aus wurde Bromkali in alle Welt versandt, bis hin zu den
Missionsstationen in der britischen Kapkolonie an der Südspitze
Afrikas. Allein 1895 verschickte man etwa 2.700 kg. Die Ärzteschaft
Bethels äußerte seit 1903 massive Kritik daran, dass ein Medikament,
das bei falscher Dosierung bedenkliche Nebenwirkungen haben konnte,
unkontrolliert auf dem Postweg an die Patienten versandt wurde.
Friedrich v. Bodelschwingh warf seine ganze Autorität in die Waagschale
und setzte durch, dass das Verfahren beibehalten wurde. Er
argumentierte, dass mittellose Patienten ohne die Lieferungen aus
Bethel unbehandelt blieben oder Quacksalbern in die Hände fielen. Trotz
eines neuen Beipackzettels verstummten die kritischen Stimmen nicht.
1925 sprach der Leitende Arzt, Dr. Karl Blümcke, gar von
„Kurpfuscherei“. Mittlerweile war der Verbrauch des Bromkalis jedoch
deutlich zurückgegangen. In den Anstalten kam mehr und mehr das
Beruhigungsmittel Luminal in Gebrauch.
„Immer wieder neue Rätsel“
Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein tappte man, was die Ursachen und
Behandlungsmöglichkeiten der Epilepsie anging, noch weitgehend im
Dunkeln. Immer wieder meldeten sich Ärzte, Naturheilkundler,
Scharlatane und Patienten in Bethel. Sie führten die Epilepsie etwa auf
„Krämpfe der Bauchspeicheldrüse“ oder auf „Eingeweidewürmer“ zurück und
empfahlen die verschiedensten „Wundermittel“ – von langen Fastenkuren
und Eukalyptus-Bädern bis zur Bestrahlung mit Radium oder
„Lufteinblasungen ins Gehirn“. Die Bethel-Ärzte prüften alle
Zuschriften und verwarfen fast alles. „Es ist eine merkwürdige, noch
von niemand ganz erforschte Krankheit“, schrieb Friedrich v.
Bodelschwingh d.J. 1930, „die uns immer wieder neue Rätsel aufgibt.“
Karte
Ophir