Die Zionskirche – der geistliche Mittelpunkt Bethels

Ab 1884 bildete die neu erbaute Zionskirche den geistlichen Mittelpunkt der Anstalten. Von nun an war meistens von der Wallfahrt zum heiligen Berg Zion die Rede. Dabei stand der Gedanke des seligen Sterbens weiterhin im Mittelpunkt.

Von den Türmen läuten seit 1979 die beiden großen Glocken „Auferstehung“ und „Frieden“, deren Namen auf die Überwindung der Welt und auf den Frieden Gottes verweisen. Das Glöcklein „Eva-Susanna“ aus dem Jahr 1885 war eine Gabe von Freunden Bethels zur Erinnerung an ihre früh verstorbene Tochter.

Um Weltüberwindung und Totengedenken geht es auch an der südwestlichen Seitenfront: Dort befinden sich das große Denkmal der Zionsgemeinde an die Gefallenen der Weltkriege und die Gedenktafel für die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde.

Die Zionskirche wurde mit Bibelworten, Bildwerken und christlichen Symbolen geschmückt. So entstand ein vielfältiges Bedeutungsgeflecht, das auf Liturgie und Predigt bezogen war. Manches davon – wie die bemalten Chorfenster – ging verloren; anderes kam später hinzu und fügte sich ein.

Begleitet von zwei Engeln lädt Christus über dem Hauptportal mit ausgestreckten Armen in die Kirche ein: „Kommet her zu Mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid, Ich will Euch erquicken“. (Matthäus 11,28) Auf den Türflügeln erscheinen die Köpfe von Engeln, die das Gotteshaus bewachen.

Ein Rundgang durch die Zionskirche

Vom Haupteingang schweift der Blick durch den Mittelgang zum Chorbogen, der den Zugang zum Altarraum freigibt. Über dem Bogenrund steht in großen Lettern der erste Vers des 126. Psalms: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“ Der Vers nimmt den Spruch aus Jesaja an der Fassade des alten Pförtnerhäuschens auf: „Zion hat der Herr gegründet, und daselbst werden die Elenden seines Volkes Zuversicht haben.“ (Jesaja, 14,32)

Als „Gefangene Zions“ galten vor allem jene, die an Epilepsie litten. Da es am Anfang des 20. Jahrhunderts für sie kaum medizinische Hilfe gab, kamen viele Patienten erst durch den Tod von der Krankheit los. Für Bodelschwingh waren aber nicht nur Epilepsiepatienten, sondern alle Menschen „Gefangene Zions“, weil jeder Mensch an der „Sünden-Anfallskrankheit“ leide.

Das Gewände des Chorbogens ist dreistufig angelegt. Zu beiden Seiten des Durchganges haben je drei neuromanische Säulen ihren Platz. Ihre Kapitelle zeigen – von außen nach innen – Öllampen als Zeichen wachsamer Erwartung, Ankerkreuze als Hoffnungssymbole und Ähren mit Ähren und Trauben als Hinweis auf Brot und Wein das Abendmahls. Mit den Lampen wurde auf das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen angespielt. (Matth. 25,1-3) Bodelschwingh verwies oft auf das Vorbild der fünf klugen Jungfrauen. Sie hatten das Öl aufbewahrt und ihre Lampen erst bei der Ankunft des Bräutigams wieder entzündet. Ein Christenmensch sollte es ihnen gleich tun, sich in Geduld üben, mit seiner Hoffnung in Christus ankern, sein Wort und Sakrament empfangen und schließlich dem Heiland als dem Bräutigam im rechten Brautkleid entgegengehen.

Links vom Chorbogen befindet sich die Kanzel. Sie ist mit Bildern der vier Evangelisten und des Apostels Paulus verziert. Früher erlitten viele Patienten während der Gottesdienste Anfälle, manche starben daran. Deshalb standen in der Kirche sechs Ruhekammern bereit, die mit Engelsköpfen verziert waren. Denn für Bodelschwingh stand jedem Menschen, der sich im Sterben Gott anvertraute, ein Engel bereit. Lag jemand im Sterben, sprach Bodelschwingh davon, die Leiter zwischen Himmel und Erde sei aufgestellt, und der Engel steige bereits herab, um die liebe Seele des Gotteskindes heimzuholen.

Der einzige gewölbte Teil der Zionskirche ist der Chorraum, wo am Altar das Heilige Abendmahl gefeiert wird. Dabei ist Christus schon jetzt in seiner Gemeinde gegenwärtig – so wie er am Ende der Zeiten im himmlischen Jerusalem unter den Erlösten wohnen wird.

In der Sakristei rechts vom Chor befindet sich das einzige aus der Erbauungszeit erhaltene Glasgemälde der Kirche. Es zeigt das stehende Lamm mit der Siegesfahne auf dem Zionsberg. Die Kapitelle der Säulen, die als Wandvorlagen den Altarraum umstehen, sind mit Ähren und Trauben verziert; sie weisen auf das Abendmahl hin. Über dem Altar erhebt sich das geschnitzte Bild des Gekreuzigten. Das Altarkruzifix befindet sich genau unter dem Schlussstein des Gewölbes. Der trägt das Chi-Rho-Siegeszeichen des Christus. Die Gewölbefelder sind mit Sternen bemalt: Der Sohn Gottes hat den kosmischen Sieg errungen.

Ein Bauplatz auf dem Bergrücken

Nach Bodelschwinghs Auffassung hätte die neue Kirche weit sichtbar auf dem Bergrücken über der Ortschaft errichtet werden müssen. Das hätte zu dem Psalmvers gepasst: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt.“ (Psalm 121,1; 123,1) Der geeignete Platz dafür war aber bereits durch das Pflegehaus Hermon besetzt. So wurde ein tiefer gelegener Bauplatz im Wald gewählt. Deshalb ist die Kirche von Ferne nur schwer zu erkennen. Alte Bethelansichten korrigierten das: Sie bildete Hermon verkleinert ab, das Gotteshaus dagegen größer und höher.

Sitzordung und Gottesdienstbesuchspflicht

Bis 1969 nahmen im Gestühl zu beiden Seiten des Mittelganges Patientinnen und Patienten Platz, nach Pflegehäusern und nach Geschlechtern getrennt. Sie wurden von Diakonissen und Diakonen in geschlossenen Gruppen zum Gottesdienst geführt. Es bestand Teilnahmepflicht. Bodelschwingh hatte dazu 1894 bemerkt:

Was sollte hier aus unserer Gemeinde werden, wenn wir es unsern Epileptischen, großen und kleinen, pur in die Wahl stellten, ob sie in die Kirche kommen wollten oder nicht! Da wird ja immer Rücksicht genommen auf einzelne schwache Gemüter. Aber unsere sämtlichen Hausväter sind sich einig darin, dass dann sofort einige Schlingel den Ton angeben: ‚Wir wollten zu Hause liegen bleiben’, und würden dann auch viele Gute verführen.

Musik und Gesang in der Zionskirche

Über Musik und Gesang in der Zionskirche schrieb Bodelschwingh:

„Unsere Kranken haben sich vorgenommen, jedes Jahr auf dem Wege zu der großen Erlösungsstunde des Klagens und Seufzens weniger und des Lobens und Dankens mehr zu machen.“

Deshalb war ein Chor aus Kranken und Gesunden gebildet worden, der in rhythmischer Weise Choralverse vortrug. Die Gemeinde antwortete darauf. Es sollten möglichst alle Strophen eines Liedes gesungen werden. Viele Gottesdienste schlossen das Abendmahl ein. So wurden die Gottesdienste gefeiert als Lobpreis des siegreichen Zionslamms, das die Welt überwunden hat und die Gefangene Zions erlösen wird.

Dietrich Bonhoeffer über einen Gottesdienst in der Zionskirche

Im August 1933 hielt sich der damals 27jährige Berliner Privatdozent Dietrich Bonhoeffer mehrere Tage lang in Bethel auf. Er gehörte einem kleinen Kreis von Theologen an, der das später so genannte „Betheler Bekenntnis“, eines der wichtigsten Zeugnisse des „Kirchenkampfs“ ausarbeitete. Damals schrieb Bonhoeffer an seine Großmutter:

„Die Zeit hier in Bethel ist für mich sehr eindrucksvoll gewesen. Es ist hier einfach noch ein Stück Kirche, die weiß, worum es einer Kirche gehen kann und worum nicht. Ich komme eben aus dem Gottesdienst. Es ist ein eigentümliches Bild, die Scharen von Epileptikern und Kranken die ganze Kirche füllen zu sehen, dazwischen die Diakonissen und Diakone, die helfen müssen, wenn irgendeiner fällt; dann wieder alte Vagabunden von der Landstraße, die Theologiestudenten, die Kinder aus der Aufbauschule für Gesunde, Ärzte und Pfarrer mit ihren Familien; aber eben doch das ganze Bild beherrscht von den Kranken, die mit einer starken Teilnahme zuhören. Es muss ja in diesen Menschen auch ein ganz eigentümliches Lebensgefühl sein, die so gar nicht Herr über sich sein können, die jeden Augenblick darauf gefasst sein müssen, dass es sie packt. Das ging mir heute in der Kirche in solchen Augenblicken erst eigentlich auf. Und diese Situation der wirklichen Wehrlosigkeit öffnet diesen Menschen vielleicht viel deutlicher einen Einblick in gewisse Wirklichkeiten der menschlichen Existenz, die eben doch im Grunde wehrlos ist, als das uns Gesunden je gegeben sein kann.“

Karte


Die Zionskirche, Mitte des 20.Jahrhunderts
Die Zionskirche, Mitte des 20.Jahrhunderts

Die Zionskirche vom Kantensiek her, um 1925
Die Zionskirche vom Kantensiek her, um 1925

Christusfigur über dem Hauptportal der Zionskirche nach einem Entwurf von Bertel Thorvaldsen
Christusfigur über dem Hauptportal der Zionskirche nach einem Entwurf von Bertel Thorvaldsen

Bethelansicht nach der Art des Mont St. Michel. Buchtitel, 1929
Bethelansicht nach der Art des Mont St. Michel. Buchtitel, 1929

Zionskirche, Blick durch den Mittelgang in den Altarraum
Zionskirche, Blick durch den Mittelgang in den Altarraum

Chor der Kranken, 1950er Jahre
Chor der Kranken, 1950er Jahre

Dietrich Bonhoeffer auf dem Gefängnishof in Tegel, Juli 1944
Dietrich Bonhoeffer auf dem Gefängnishof in Tegel, Juli 1944