Die medizinische und berufliche Rehabilitation von Menschen mit körperlichen Behinderungen gehörte ursprünglich nicht zu den Arbeitsfeldern Bethels. Das änderte sich im Ersten Weltkrieg, als in den Lazaretten Bethels hunderte von Soldaten Aufnahme fanden, die im Krieg Arme oder Beine verloren hatten. Schon im April 1915 schlug Friedrich von Bodelschwingh d. J. vor, die Werkstätten Bethels zu nutzen, um das Lazarett des Roten Kreuzes zu einem Zentrum der Berufsberatung, Ausbildung und Umschulung von arm- oder beinamputierten Kriegsversehrten auszugestalten. Dazu war aber auch eine professionelle orthopädische Versorgung notwendig. Bodelschwingh erwirkte die Versetzung des Stabsarztes Dr. Bernhard Mosberg, der in Friedenszeiten eine orthopädische Praxis in Bielefeld betrieb, nach Bethel. Mosberg baute innerhalb weniger Monate eine „Abteilung für Kriegsbeschädigten-Fürsorge“ auf, die im Assapheum und in den Häusern Tiberias und Groß-Bethel untergebracht war. Sie umfasste einen Übungssaal mit medikomechanischen Apparaten zur Mobilisierung und Stimulierung verschiedener Muskelgruppen – ähnlich einem heutigen Fitnessstudio – und einen orthopädischen Operationssaal. Pastor Wohlrab fungierte als Berufsberater. In den 24 Werkstätten, in der Elektrischen Zentrale, auf dem Schlachthof, in der Landwirtschaft, im Kaufhaus Ophir und in der Verwaltung der Anstalten arbeiteten zeitweise bis zu 250 „Kriegsbeschädigte“. Bis 1919 hatten fast 4.400 kriegsversehrte Soldaten die berufliche Rehabilitation in Bethel durchlaufen. Zudem wurde eine Prothesenwerkstatt eingerichtet, in der zeitweilig bis zu hundert Amputierte „im Gebrauch ihrer künstlichen Glieder und in den einfachsten Reparaturarbeiten an denselben geübt“ wurden.
Gegen Kriegsende stellte sich die Frage, wie es mit diesem Arbeitszweig weitergehen sollte. Auf Wunsch des Militärs beschloss man, die „Kriegsbeschädigten-Fürsorge“ noch einige Jahre fortzuführen. Im August 1918 kaufte man die Gaststätte Richters Garten an, wo der Heilgarten eingerichtet wurde, 1924 kam die angrenzende Fahrradwerkstatt hinzu. Mittlerweile hatte man im Heilgarten auch – auf der Grundlage des preußischen „Krüppelfürsorgegesetzes“ von 1920 – körperbehinderte Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts aufgenommen, die in einer eigenen Hilfsschule unterrichtet wurden oder in den Betheler Betrieben eine Berufsausbildung machten. 1931, vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, beschloss Bethel jedoch, die Körperbehindertenfürsorge an die „Krüppelanstalten“ in Volmarstein abzugeben. Der Heilgarten wurde im März 1932 geschlossen, Heilstatt bis Oktober 1939 fortgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten vorübergehend wieder Kriegsversehrte in Heilstatt, bis das Haus zu Beginn der 1950er Jahre in ein Lehrlingsheim für jugendliche Flüchtlinge und Vertriebene umgewandelt wurde.
Krüppel“, „Kriegsversehrte“, „Körperbehinderte“
Für Menschen mit körperlichen Behinderungen hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Umgangssprache die Bezeichnung „Krüppel“ durchgesetzt. Das Wort war extrem negativ besetzt und wurde mit Armut, Not und Elend assoziiert. Wie den „armen Irren“, so stellte man sich auch den „armen Krüppel“ generell als mittellos und hilfsbedürftig vor. Gerade deshalb jedoch wurde das Wort „Krüppel“ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von Einrichtungen der Inneren Mission, die sich der geschlossenen Fürsorge für Menschen mit körperlichen Schädigungen verschrieben hatten, als „ein sorgfältig gewählter Kampfbegriff“ aufgegriffen.
Schon bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs, als offenbar wurde, welch ungeheures Ausmaß an verstümmelten Körpern die modernen Kriegsmaschinerien produzierten, wurde das Wort „Kriegskrüppel“ als diskriminierend empfunden. Stattdessen kamen die Bezeichnungen wie „Kriegsinvalide“, „Kriegsversehrter“ und vor allem „Kriegsbeschädigter“ auf. Das „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“ aus dem Jahre 1920 gilt als eines der wirkungsvollsten sozialpolitischen Gesetze der Weimarer Republik. Auf der sprachlichen Ebene jedoch brachte die Schwerbeschädigtengesetzgebung eine folgenschwere Unterscheidung: Aus Menschen, deren körperliche Behinderung auf eine Kriegs-, Arbeits- oder Unfallverletzung zurückzuführen war, wurden „Schwerbeschädigte“, alle anderen Menschen mit körperlichen Behinderungen blieben „Krüppel“. Vergeblich versuchte der 1919 gegründete„Bund zur Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten“, die Wortneuschöpfung „Behinderung“ durchzusetzen.
Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet der NS-Staat den Begriff des „körperlich Behinderten“ in die Gesetzgebung einführte. So regelte das „Reichsschulpflichtgesetz“ im Jahre 1938 die „Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder“. Hintergrund war die angespannte Arbeitsmarktpolitik seit Mitte der 1930er Jahre. Menschen mit körperlichen und leichten geistigen Behinderungen wurden nun als verborgene Arbeitsmarktreserve entdeckt und begrifflich von den vermeintlich unproduktiven „Siechen“ und „Blöden“ abgesetzt.
Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Bundessozialhilfegesetz von 1961 setzte sich der Begriff der körperlichen, geistigen und seelischen Behinderung in der deutschen Amtssprache endgültig durch.
Dr. Bernhard Mosberg
Bernhard Mosberg, 1874 in Bielefeld geboren, entstammte einer jüdischen Familie, die seit mehreren Generationen in Ostwestfalen ansässig war. 1902 ließ er sich als Facharzt für Chirurgie und Orthopädie mit einer Praxis, einer Privatklinik und einem Institut für Heilgymnastik in Bielefeld nieder. Die von ihm entwickelten Prothesen für Menschen mit körperlichen Behinderungen – etwa die so genannten „Mosberg-Arme“ – fanden in der Fachwelt weithin Beachtung. Als Leiter der Häuser Heilgarten und Heilstatt wurde Mosberg 1919 als Spezialarzt im Nebenamt in Bethel eingestellt, obwohl er nicht der evangelischen Kirche angehörte, sondern aktives Mitglied der Bielefelder Synagogengemeinde war. Mosberg ist damit der erste und einzige jüdische Arzt, der je für Bethel tätig war.
Das Dienstverhältnis wurde 1932 von Bethel gekündigt. Zum einen wollten die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel die Fürsorge für Menschen mit körperlichen Behinderungen fortab Volmarstein überlassen, zum anderen hatte es „Verstimmungen“ wegen des angeblich zu hohen Gehaltes Mosbergs gegeben. Auch gab der Hausvater des Heilgartens an, „eine große Anzahl Kranker lehne Mosberg als behandelnden Arzt ab, weil er Jude sei“.
Ab 1933 geriet Bernhard Mosberg immer stärker unter den Druck der braunen Machthaber. Eine Zeitlang blieb er als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges von den Berufsverboten für jüdische Ärzte ausgenommen. Seine Tochter Gertrud emigrierte in die Niederlande und eröffnete dort eine Praxis für Chirurgie und Orthopädie. Mosbergs Ehefrau Rosa erlitt unter dem Druck der Verfolgung einen Nervenzusammenbruch und begab sich in ein Sanatorium in den Niederlanden. Während des Novemberpogroms 1938 befand sich Bernhard Mosberg gerade zu Besuch bei seiner Familie. Er beschloss, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Nach der Besetzung der Niederlande im Jahre 1940 fiel die Familie Mosberg aber doch noch den Nationalsozialisten in die Hände. Bernhard Mosberg wurde 1944 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.
Lazarette in Bethel
Sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg waren Bethel und seine Zweiganstalten ein bedeutender Lazarettstandort. Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. hatte mit dem Verein vom Roten Kreuz für die Provinz Westfalen vereinbart, dass die Anstalten Bethel, Sarepta und Nazareth im Kriegsfall 2.200 Lazarettbetten zur Verfügung stellen würden – eine ungeheure Zahl, wenn man bedenkt, dass in Bethel und seinen Tochterkolonien am Vorabend des Ersten Weltkrieges knapp 4.000 Patienten untergebracht waren. Ab 1914 wurden in Bethel und Eckardtsheim 1.950 Betten für Lazarette frei gemacht. Dazu mussten die Patienten in den verbliebenen Häusern näher zusammenrücken – sie lebten in der Kriegszeit in drangvoller Enge, was dazu beitrug, dass die Sterberaten stiegen. Insgesamt wurden von 1914 bis 1918 mehr als 30.000 verwundete und erkrankte Soldaten in den Betheler Anstalten behandelt.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs richtete die Wehrmacht in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen ein Reservelazarett mit einer Planzahl von 2.000 Betten ein. Wieder mussten viele Häuser geräumt werden, litten die Patienten große Not. Eckardtsheim war Standort zweier Sonderlazarette: In Haus Gute Hoffnung wurden lungenkranke Soldaten versorgt, im Eichhof kam die psychiatrisch-neurologische Abteilung des Reservelazaretts unter. Der Hausvater erinnert sich: „Was war das für ein merkwürdiger Haufe, der da gekommen war: Epileptiker, Schwermütige und Dienstverweigerer, einige waren vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Wir sollten jetzt die Unzurechnungsfähigkeit feststellen.“
Die abgelegene Senne bot sich an, um psychisch erkrankte Soldaten – ein Anblick, der nicht geeignet war, den „Wehrwillen“ des deutschen Volkes zu steigern – von der Öffentlichkeit abzuschirmen, zumal man unter ihnen einen hohen Prozentsatz von so genannten „Psychopathen“ vermutete, die man der „Wehrkraftzersetzung“ verdächtigte.