Kurz nach der Übersiedlung nach Bethel erschloss die EMDOA ein neues Missionsgebiet im Königreich Ruanda, das seit 1897 unter der informellen Herrschaft des Deutschen Reiches stand. Als die Bethel-Missionare Ernst Johanssen und Gerhardt Ruccius im August 1907 in Dsinga die erste Missionsstation in Ruanda gründeten, gerieten sie in ein diffiziles politisches Kräftefeld. Die Macht des Königs Yuhi V. Musinga, der 1895 nach blutigen Auseinandersetzungen auf den Thron gekommen war, war keineswegs gefestigt. Neben dem Königshof in Nyanza hatte sich die deutsche Residentur in Kigali als zweites Machtzentrum herausgebildet, nach der Jahrhundertwende kam die Residenz der katholischen Weißen Väter in Kabgayi als drittes Machtzentrum hinzu. Die Weißen Väter hatten sich dem Ziel verschrieben, mit Bibel und Gewehr im Herzen Afrikas ein katholisches Königreich zu schaffen. Von 1900 bis 1906 besaßen sie das Missionsmonopol. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten sie über 10.000 Ruander getauft. Dagegen nahmen sich die Missionserfolge der EMDOA bescheiden aus. Zwar kam es in rascher Folge zur Gründung von fünf weiteren Missionsstationen. Die erste Taufe fand jedoch erst 1911 statt. Bis 1914 wurden lediglich 67 Taufen vorgenommen.
Schwächste Kraft in Ruanda
Der deutsche Resident, der gehofft hatte, die EMDOA werde die friedliche Durchdringung des Landes vorantreiben, zeigte sich von der langsamen Aufbauarbeit der Bethel-Missionare, die mehr auf Tiefen- als auf Breitenwirkung setzten, enttäuscht. Auch König Musinga und sein Hof sahen in der EMDOA einen nützlichen, aber nicht sehr bedeutenden Partner. Der König ermunterte die Kulturarbeit der evangelischen Missionare und duldete ihre Missionstätigkeit, solange sie dem Hof fern blieben. Die anfangs schroffe Frontstellung gegen die Weißen Väter löste sich bald auf. In einem Punkt waren sich katholische und evangelische Mission ohnehin einig: Anders als die Residentur versuchten sie, den Einfluss des Islam auf Ruanda einzudämmen.
Das volksmissionarische Konzept …
Das Beispiel Ruandas zeigt sehr deutlich: Mit dem universellen Geltungsanspruch des Christentums war untrennbar eine Verwerfung der einheimischen Religionen als „barbarische Kulte“ verbunden. Dagegen wurden die indigenen Sprachen, Sozialstrukturen, Herrschaftsverhältnisse, Rechtstraditionen, Sitten und Bräuche als eigenständige Kultur respektiert, die es zu erhalten gelte. Ziel war – im Sinne einer „volksorganischen“ Missionsauffassung – die Indigenisierung des Christentums, die Schaffung von afrikanischen „Volkskirchen“. Andererseits wollten die Bethel-Missionare den Afrikanern mit dem Christentum zugleich ein Bündel von Errungenschaften der westlichen Zivilisation vermitteln – wobei sie dadurch, dass sie sich der Volkssprachen bedienten, den Zugang zur westlichen Zivilisation monopolisierten, um die Afrikaner von den – im Sinne der Mission – „schädlichen“ Einflüssen dieser Zivilisation abzuschirmen.
… und sein Scheitern
Dieses „sanfte“ Missionskonzept konnte aber nicht aufgehen: Der angestrebte partielle Kulturtransfer war ohne tiefe Eingriffe in die sozialen und kulturellen Strukturen der afrikanischen Gesellschaften nicht möglich. Dies gilt insbesondere für die Arbeitserziehung, die den Kern des Schulunterrichts auf den Missionsstationen bildete. Die Bethelmission orientierte sich am Erziehungskonzept des schwarzen Nordamerikaners Booker T. Washington, der größten Wert auf die Entwicklung handwerklicher Fähigkeiten gelegt hatte, ohne zu bedenken, dass sich dieses Konzept nicht ohne weiteres auf Afrika übertragen ließ.
Auch der Umstand, dass die getauften Ruander fast ausnahmslos den untersten Bevölkerungsschichten entstammten, entfaltete soziale Sprengkraft. Während die deutsche Residentur die Aristokratie aus der Bevölkerungsgruppe der Tutsi privilegierte, stammten die Neuchristen und Missionsschüler vornehmlich aus der sozial benachteiligten Gruppe der Hutu und den ärmeren Schichten der Tutsi. So wurde schon in der Kolonialzeit der Gegensatz zwischen Hutu und Tutsi vertieft, der seit der Unabhängigkeit Ruandas immer wieder zu Massakern führte und 1994 schließlich in einem Völkermord gipfelte.
Karte
Ruanda