Der Aufstieg auf den heiligen Berg erreicht auf dem alten Friedhof sein Ziel.
Bei der Gestaltung der geistlichen Heilslandschaft spielte die Leichenkapelle keine Rolle. Sie wurde errichtet als Zugeständnis an die Ärzte, die einen Ort brauchten, um Leichname zu sezieren. Erst 1951 erhielt sie ihren heutigen Namen: Auferstehungskapelle. Gegenüber vom Haupteingang der Kapelle befindet sich der Zugang zum Friedhof. Etwa zwanzig Meter dahinter stehen vier mächtige Blutbuchen um einen leeren Platz. Hier erhob sich fast einhundert Jahre lang ein steinernes Hochkreuz. Es trug als Aufschrift das Wort des Apostels Paulus: „Christus ist mein Leben, Sterben mein Gewinn.“ (Phil 1, 21). Friedrich von Bodelschwingh hatte es aufstellen lassen, damit es als Zeichen der Überwindung des Todes die Kreuze der Verstorbenen überragt.
Am Ende des Weges vom Portal in den Friedhof steht heute das Grabmal des „Posaunengenerals“ Johannes Kuhlo. Seine sterblichen Überreste ruhen an anderer Stelle. Fünfzig Meter rechts vom Grabdenkmal Kuhlos liegen die Bodelschwingh-Gräber. In ihrer Mitte steht ein von den Diakonissen errichteter Gedenkstein an die 1869 verstorbenen vier ersten Kinder Bodelschwinghs und seiner Frau Ida. Sie liegen in Dellwig an der Ruhr begraben, wo ihr Vater Pfarrer war, bevor er nach Bielefeld kam. Der Stein erinnert daran, in welch hohem Maße Bodelschwinghs Frömmigkeit von familiären Schicksalsschlägen beeinflusst war.
Jahrzehntelang bildete das Hochkreuz den Schlusspunkt der Betheler Heilslandschaft. Dann wurde es abgeräumt. Da war aber schon für Ersatz gesorgt. Nachdem die Gräberfelder zum Remterweg hin erweitert worden waren, hatte die Diakonissenschaft 1928 auf der nunmehr höchsten Stelle des alten Friedhofs jenes große Kruzifix aufstellen lassen, das nach einem Vorbild des spätgotischen Bildhauers Adam Kraft gestaltet ist. Seither fungiert es als Himmelsleiter, die über der Ortschaft Himmel und Erde verbindet. Am Sockel ist ein Reim eingemeißelt:
„Der Hirt, am Kreuz gestorben,
hat Fried und Heil erworben,
nun heißt bei seinen Schafen
das Sterben ein Entschlafen.“
(Nach Joh 10,12)
Die Auferstehungskapelle – ein verborgenes Juwel
Von außen stellt sich die Auferstehungskapelle als Zentralbau mit niedrigen Seitenflügeln und steilem Pyramidendach dar, auf dem ein spitzer Dachreiter sitzt. Der Grundriss entspricht im Kern fast genau einem griechischen Kreuz. Das Innere ist mit einer Art Kreuzrippengewölbe überdeckt. Sein Zentrum öffnet sich in einem blauen, bleiverglasten Himmel. In seiner Mitte erscheint die Taube des Heiligen Geistes. Erhellt wird die flache Glaskuppel von dem Licht, das von oben einfällt.
Über der Apsisnische steht seit 1951 ein Wort Jesu aus dem Johannes-Evangelium: „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.“ (Joh. 12,32)
In der Kapelle steht seit 1963 jene Orgel, die Friedrich von Bodelschwingh hundert Jahre zuvor für seine Pariser Hügelkirche angeschafft hatte.
Frömmigkeit und Sterben im Elternhaus Bodelschwinghs
Bodelschwinghs Elternhaus war von der Erweckung geprägt. Diese evangelische Frömmigkeitsbewegung hatte in den Befreiungskriegen gegen Napoleon begonnen. Seine Mutter Charlotte (1793-1869) hatte oft kranke und sterbende Verwandte ins Haus aufgenommen und bis zum Tod begleitet. Vater Ernst (1794-1854) war infolge einer Kriegsverletzung immer wieder an Lungenentzündung erkrankt. Wiederholt dem Tode nah, hatte die Familie jedes Mal betend von ihm Abschied genommen. Friedrich v. Bodelschwingh erinnerte sich an seine Kindheit:
„Die Franzosenkugel, die meinen Vater traf [...] hatte uns alle, Vater und Mutter und Kind, beten gelehrt. Achtmal waren wir um den lieben Vater versammelt, der an der durch diese Kugel hervorgerufenen Verwundung immer wieder todkrank darniederlag. Achtmal nahmen wir von ihm Abschied, und achtmal hat Gott uns auf das heiße Flehen der Mutter und der Kinder den Vater erhalten. Diese Erfahrung, was gläubiges Gebet vermag, hat uns begleitet durch unser Leben.“
Als Vierjähriger hatte er im Bett des genesenden Vaters gespielt, – und war von ihm in den Anfängen des Lesens unterwiesen worden. Er übte einfache Sätze: „Mein Kind, Gott ist sehr gut, er hat dich sehr lieb“.
Eine Abschiedsszene wie am Bett des Vaters hatte sich auch abgespielt, als 1846 der ältere Bruder Ludwig an den Folgen eines Duells starb. Friedrich war damals 15 Jahre alt. Dem Bruder war noch Zeit geblieben, Gott und die Eltern um Vergebung zu bitten. Als die Familie am Bett des Sterbenden gemeinsam das Abendmahl feierte, kam es Friedrich vor, „als wäre der Himmel ganz nahe auf der Erde, wie ich es vorher nie gespürt“. Von ähnlichen Erfahrungen der Gottesnähe berichtete Bodelschwingh auch später, wenn er mit Sterbenden zu tun hatte.
Der Tod der eigenen Kinder
Wohl noch tiefer als alle vorherigen Sterbeerlebnisse berührte Friedrich von Bodelschwingh der Tod seiner vier älteren Kinder. Ein Mädchen und drei Jungen im Alter von ein bis sechs Jahren starben im Januar 1869 binnen zwei Wochen an Diphterie. Von der sechsköpfigen Familie blieb nur das verwaiste Elternpaar übrig. Unmittelbar danach schrieb sich Bodelschwingh im „Westfälischen Hausfreund“, einem Wochenblatt für erweckte Christen, seinen Schmerz von der Seele. Im Sterben seiner Kinder war ihm die Majestät Gottes begegnet – ähnlich wie einst dem Erzvater Jakob in seinem furchterregenden Traum von Bethel (1. Mose 1, 28,10 ff.).
Er schrieb darüber:
„Um ein getauftes Christenkind [...] ist es [...] etwas sehr hohes und heiliges, es trägt etwas an sich von der Majestät Gottes, sein Leben und sein Sterbebettlein ist ein Bethel, da der Himmel sich hernieder neigt, die Engel Gottes hinab und hinauffahren, und man bekennen muss: hier ist nichts anders denn ‚Gottes Haus’, hier ist die Pforte des Himmels.“
Seiner Mutter schrieb er damals von dem lieblichen Trost, den er betend an den Sterbebetten empfangen hatte. Ihm sei „es bei aller Tiefe des Schmerzes doch nun auch im tiefsten Herzensgrunde recht wohl“ gewesen. Aufgrund dieser Erfahrungen empfahl er den Patienten in Bethel, sich aufs Sterben vorzubereiten. Den Diakonissen riet er, sie sollten ihren schweren Dienst an Kranken und Sterbenden als eine „Schmelzhütte heißer Trübsal“ begreifen, die weich und barmherzig macht und den Glauben stärkt.
Beispielhaftes Sterben eines Patienten
Ein Patient, bei dem nach Bodelschwinghs Eindruck die Vorbereitung aufs Sterben gelungen schien, war Louis Weil; er starb 1894 bei der Grabpflege auf dem Friedhof. Bodelschwingh schrieb über ihn:
„Kein Ort war ihm lieber auf Erden als das Gotteshaus und kein Ort wichtiger als der Friedhof. Hier half die Umgebung [...] der schwächer werdenden Kraft nach, mit allen Gedanken sich auf das Jenseits zu sammeln. Ja, seine Kraft nahm ab, aber tiefer senkte sich unter dem Schall der Predigt des Evangeliums, der er so andächtig lauschte, seines Glaubens Anker in den Lebensboden der Ewigkeit; fester als je in den Tagen seiner Kraft umklammerte er, zwischen den Kreuzen des Friedhofes wandelnd, im Geist das Kreuz auf Golgatha."
„Vor drei Jahren, am Morgen des letzten Maitages, ist er [...] auf den Friedhof hinausgegangen, um bei dem [...] Bepflanzen der Gräber zu helfen. Plötzlich bekam er einen Anfall, sank auf einem Grabhügel nieder und that seinen letzten Atemzug [...]. [A]ls Herbeieilende den Stein sich besahen auf dem Grabe, das sein Sterbebett geworden war, siehe, da stand das Wort darauf geschrieben: ‚Er hat alles wohlgemacht.’ – [...] Da war es [...] als umrauschte sie allesamt, Lebende und Tote, der Flügelschlag der Ewigkeit, die frohe Verheißung von einem neuen Lebensmorgen, zu dem der Entschlafene erwacht ist“.